Russland
Alltag in Angst
VON STEFAN SCHOLL
Moskau. Draußen kleben meterlange Eiszapfen an den Blechplatten. Aber Awas Acharow schwitzt drinnen. "Wir sind aus dem Trolleybus gestiegen, keine fünf Schritte gegangen, da waren die Milizionäre schon da." Acharow sitzt am Kanonenofen, aus dessen angerissener Eisenwand Hitze lodert. "Sie sagten, meine Papiere seien gefälscht."
Der 44-Jährige erzählt seine Geschichte ohne Eifer, er hat sich daran gewöhnt, dass Unglück sein Alltag ist. Er und seine sechsköpfige Familie hausen in einer aus Bautrümmern zusammengenagelten 14-Kubikmeter-Hüte. In Tschelobitjewo, einem Slum, der hinter dem Mitischtschinskij-Baumarkt am Moskauer Autobahnring kauert. Solange die Bauwirtschaft boomte, waren Menschen wie Acharow willkommen. Nun geht der Staat in spektakulären Aktionen gegen sie vor - wie am Donnerstag, als im Zentrum Moskaus nahe der großflächigen Hochhaus-Baustelle "Moscow City" ein Lager von 4000 illegalen Migranten ausgehoben wurde.
Die Opfer, das ist der neue Proletariat des postsowjetischen Kapitalismus - rechtlos und vogelfrei. "Gastarbejter", wie die Russen auf Deutsch spotten. Niemand kann genau sagen, ob es nun vier oder zehn Millionen sind. Awas Acharow ist einer von ihnen, gelernter Bauer, Usbeke mit tadschikischem Pass.
"Die Milizionäre verlangten wieder Geld. Aber diesmal wollte ich nichts geben", berichtet Awas Acharow. "Ich hatte 4000 Rubel dabei, von einer Hilfsorganisation, um den Jungs etwas zum Anziehen zu kaufen." Die Milizionäre nahmen ihn und seine zwei Söhne mit auf die Wache, kassierten das Geld, seinen Pass und jagten sie wieder hinaus. Bachrom Chamrojew, ein Moskauer Bürgerrechtler, stellte die Miliz später zur Rede. Die Beamten erklärten ihm, man prüfe die Echtheit des Passes per "Expertise".
Das war Ende Januar. Die "Expertise" zieht sich hin. Aber auch ohne Pass steht Acharow jeden Morgen mit ein paar hundert anderen Gastarbeitern auf dem Baumarkt und wartet. In der Hoffnung, dass die Moskowiter, die hier Material und Werkzeug kaufen, auch gleich ihre Arbeitskraft mitnehmen. Steuerfreie Arbeitskraft, für umgerechnet sechs bis 15 Euro am Tag. Aber es herrscht Winter und Krise, seit Wochen wartet Acharow vergeblich.
Moskau hat 10,5 Millionen offizielle Einwohner. Vier weitere Millionen leben hier, mehr oder weniger legal Zugereiste aus der russischen Provinz und der GUS. Die Mehrheit hat es auf die andere, innere Seite des Moskauer Autobahnringes geschafft. Sie hausen in Wohnheimen, Baucontainern, Kellern und in den Rohbauten, wo sie arbeiten. Oder in richtigen Wohnungen, wie Safdar, 26, ein tadschikischer Stuckateur aus dem Pamir-Gebirge, der sich zwei Zimmer mit vier Kameraden teilt. "Im Pamir kennt jeder jeden, wir halten auch hier zusammen", lächelt Safdar. "Wenn einer Arbeit findet, gibt er den anderen Bescheid." Safdar ist seit elf Monaten hier, kann inzwischen auch Fliesen legen, Fenster und Türen setzen. Er hat auf Baustellen gearbeitet, wo er umgerechnet 800 Euro im Monat verdiente. Das meiste Geld ging per Western Union an seine Familie. Er zeigt stolz das Foto eines quietschvergnügten Kleinkindes auf dem Display seines Handys. "Meine Tochter Orion."
Aber auch Safdar ist Gastarbeiter. Oder "Schwarzarsch", wie der russische Volksmund Leute aus Asien nennt. "Meine Arbeitserlaubnis und meine Anmeldung sind echt. Aber wenn mich Milizionäre kontrollieren, behaupten sie das Gegenteil. Das kostet fast jedes Mal 500 Rubel (elf Euro)." Auch Safdar hat keine Garantie, dass die Milizionäre beim nächsten Mal nicht seine Arbeitserlaubnis oder gar seinen Pass zerreißen.
Offiziell regeln strikte Quoten, wie viele Immigranten aus welchen Staaten in welchen russischen Regionen leben und arbeiten dürfen. 2008 erlaubten die Quoten insgesamt knapp 3,4 Millionen Ausländern eine Erwerbstätigkeit in Russland. Aber vielerorts, auch in Moskau, war die Quote schnell erschöpft, der Bedarf der boomenden Bauindustrie keineswegs. Abhilfe schuf ein russisches Allheilmittel: Korruption.
Überall in der Moskauer U-Bahn kleben Flugzettel: "Anmeldung, Arbeitserlaubnis und Gesundheitszeugnis, ohne Vorauszahlung. Ab 300 Rubel." Private "Zwischenhändler", die gemeinsame Sache mit bestechlichen Beamten machen, verkaufen für umgerechnet zwölf bis 120 Euro die nötigen Papiere. Und die Miliz kassiert diese je nach Laune als Fälschung wieder ein. Wer nicht wie ein echter Russe aussieht, dessen Arbeitserlaubnis gilt auch nicht als vertrauenswürdig. Und wenn die Jungs aus dem Pamir zusammen U-Bahn fahren, geht Safdars Freund Dschamschet immer vor. Dschamschet studiert Wirtschaft, zieht die Aufmerksamkeit der Milizionäre, die an den Metro-Stationen lauern, auf sich, weil er mit seinem Studentenausweis am ehesten ungeschoren davonkommt.
Aber die Miliz ist nur das eine Problem. Safdar baute zwei Monate lang an der Fassade eines Wohnhochhauses im Moskauer Norden. Als er danach seinen Lohn von fast 1000 Euro abholen wollte, war sein Vorarbeiter plötzlich verschwunden. Er beschwerte sich bei der Bauleitung, die drohte ihm mit der Miliz und jagte ihn fort. "Was sollte ich tun?", fragt Safdar.Es gibt keine Statistik, wie oft Moskauer Bauunternehmer Gastarbeiter um den Lohn prellen. Safdar hat ein Fünftel seiner Zeit hier unbezahlt gearbeitet. Awas Acharow, der Tagelöhner, sagt, die meisten Bauherren zahlten. Aber praktisch keine Baufirma gibt ihren Gastarbeitern Verträge. Von Kranken- oder Unfallversicherungen ganz zu schweigen.
Der Tadschike Fahrid, 51, früher Physiklehrer in Duschanbe, der seit drei Jahren in Moskau Wohnungen renoviert, erzählt, wie er mit sechs Kollegen in einem städtischen Neubau Tapeten klebte. "Am Zahltag kamen Milizionäre. Sie nahmen uns fest, drohten mit Abschiebung und verlangten 2000 Rubel von jedem, um uns laufenzulassen."
Moskau kennt kein Erbarmen: TV-Comedies verlachen usbekische Handwerker als Deppen, die ihr Obst in der Kloschüssel waschen. Die Salonautorin Oxana Robski entlarvt in ihrem Bestsellerroman "Morgen kommt das Glück" den tadschikischen Hilfsgärtner als Boss der Kidnapperbande. Doch Moskau verlacht die "Schwarzärsche" nicht nur, es feindet sie auch offen an: Im Januar empfing die "Junge Garde", die Jugendorganisation der Putin-Partei "Einiges Russland" einen Zug voller Gastarbeiter aus Zentralasien mit den Parolen "Illegale sind Diebe" und "Unser Geld für unsere Leute."
Skinheads machen Jagd auf "Nichtslawen", nach Angaben des Moskauer Sowa-Informationszentrums gegen Rassismus, gab es zwischen Januar und November 349 rassistische Gewalttaten mit 82 Todesopfern. Die Moskauer Staatsanwaltschaft heizte Anfang Februar die Stimmung weiter an: Die "Zugezogenen" hätten im vergangenen Jahr 70 Prozent aller Vergewaltigungen und 40 Prozent aller Morde in der Hauptstadt begangen. Diese aber seien nur schwer aufzudecken, weil die Täter, meist GUS-Ausländer, sich illegal in Moskau aufhielten. Mit anderen Worten: Vergewaltiger und Mörder, die nicht erwischt wurden, müssen Gastarbeiter sein.
Wohl fühlt sich hier kaum ein Immigrant. Auch Safdar sagt, er würde gern, wie so viele bereits, heimfahren. Zugtickets nach Duschanbe würden derzeit mit einem Aufschlag von umgerechnet 35 Euro gehandelt. Safdar will noch bleiben, er hofft noch auf einen lukrativen Job. Im Pamir will er mit ein paar Freunden dann eine Autowerkstatt aufmachen.
Auf dem Kanonenofen brodeln zwei Teekessel, Awas Acharow bricht eine Packung Würfelzucker an. "Wozu sollen wir zurück nach Tadschikistan?", seine Ersparnisse, vier Goldzähne, schimmern matt. "Zum Hungern und zum Frieren?" Zwei-, dreimal im Monat taucht die Miliz auf. "Die Polizisten sammeln Geld und Handys", sagen die Gastarbeiter. Seine Frau erzählt, das letzte Mal hätten die Milizionäre ihre Kinder in die Kälte geschleppt: "Um 500 Rubel aus uns herauszupressen." "Sie verprügeln sogar Gläubige in einer kleinen Moschee", sagt der Bürgerrechter Bachrom Chamrojew. Nach einem Bericht von Human Rights Watch zwingen Milizionäre Gastarbeiter auch zur Arbeit auf privaten Baustellen.
In einer Gasse des riesigen Baumarkts stehen ein halbes Dutzend Milizionäre herum. Sie machen saure Gesichter. Vor ihnen liegt auf einem Stück Pappe die Leiche eines jungen Gastarbeiters, der heute von einem Lkw gefallen ist. Der Tote hat keine Angst mehr - und nichts, was man ihm abnehmen könnte.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1682198_Alltag-in-Angst.html